Reimar Gilsenbach: Jakobsleiter oder Mühsamer Aufstieg, Glanz und Entsagung des Zirkusdresseurs Hermann Ullmann. Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, 1986.

624 Seiten, Hardcover, ISBN 3-362-00016-9

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Inhalt:

Im 1. Kapitel kommt einem berittenen Oberzollinspektor zu Ratibor ein Sohn abhanden, gerät jedoch nicht in den Stall der edlen Rösser, sondern unter die Läuse

Im 2. Kapitel gibt es für Moses nichts als Plackerei, er spielt eine halbe Giraffe und wacht eines Morgens ohne Hosen auf

Im 3. Kapitel zieht Moses in den Stall, am ersten Tag ist er glücklich über ein Bund Stroh, am letzten träumt er von der Jakobsleiter

Im 4. Kapitel kutschiert Lilly Strepetow den Herrn Caroli jun. sechsspännig ins Angelos-Reich, und unser Stallbursche bringt es zum Milliardär

Im 5. Kapitel geht dem Zirkus das Geld aus, trotzdem werden Exoten gekauft, und ein frischgebackener Bereiter spendiert Schnaps vom billigen

Im 6. Kapitel reist unser Mann als Bereiter ins Land der Sowjets, wo sein Chef hoch pokert, er selbst aber zwei Elefanten für zehn Kopeken sehen läßt

Das 7. Kapitel handelt von der Ankunft eines bärtigen Kosaken und von den Backpfeifen, die ein Tscherkesse einheimst

Im 8. Kapitel kommt unser Reitersmann groß heraus, zwei Zirkusbosse fühlen sich als wahre Könige der Welt, und Kutscher-Felix macht eine geheimnisvolle Reise

Im 9. Kapitel sind jene Gaukler zu sehen, unter die Hermann – statt unter die Pickelhaube – gerät

Im 10. Kapitel wird weiter geritten, diesmal durchs schöne Schwedenland, wo die Mädchen so reizend sind, bis ein Sturz allen Träumen ein Ende setzt

Im 11. Kapitel zerhackt ein Gelähmter die Krücken, steigt wieder in den Sattel und reitet im Chapiteau der drei Manegen durch neue Länder

Mit dem 12. Kapitel brechen schlimme Zeiten an, ein reitender Gorilla raubt Micaela, das neue Reich und die komische Josephine treten ins Licht der Welt

Aus dem 13. Kapitel werde schlau, wer mag: Unseren Oberbereiter plagt Magendrücken, ein Pfiffikus und eine Römerin schlüpfen in andere Kleider, das Erzväterblut stiftet die Zellenfahne, und Jenny wird verspeist

Im 14. Kapitel wird Josephines Wuschelperücke zum Flammentod verdammt, auch sonst geschieht mancherlei Unheil, ganz zuletzt lächelt ein Reichsminister

Das 15. Kapitel handelt von zwei Anständigen, die sich volllaufen lassen, weil die Prinzipalin und ihr Zirkusprinzeßchen zu saure Trauben sind

Beim 16. Kapitel geht es um Abschied und Zurücksetzung wie auch um nächtlichen Radau an einer Bretterwand

Im 17. Kapitel kommt Micaela ins Ehebett, aber nicht dieser Reinfall ist es, über den Großfürst Michael Tränen lacht

Im 18. Kapitel folgt der Zirkus dem Troß der Armen, bald darauf beginnt in der Plaza ein Ponydresseur seinen Aufstieg

Das 19. Kapitel macht Kutscher-Felix zum Kumpan des schwarzen Acht-Rappen-Albert, so geschehen in eben jenem Kriegsjahr, das zwölf Beutekleppern zu Manegenruhm verhilft

Das 20. Kapitel beschert zunächst Acht-Rappen-Albert einen Liebesbrief, sodann kniet Atlas vor einer Neunzehnjährigen nieder, die sein Meister seit zwei Jahrzehnten zu lieben glaubt

Im 21. Kapitel will die junge Zirkusfrau nicht im Bett eines Toten schlafen, von der Löwenbändigerin lernt sie Milch kaufen und mit Vasen nach der Geiß schmeißen

Das 22. Kapitel zeigt schöne Erinnerungsbilder, doch von Hitlers Krieg schweigen die Fotoalben

Im 23. Kapitel steht es schlimm um die Sinti, auf Casablanca fällt eine Bombe, und als Kutscher-Felix stirbt, wird Ritho geboren

Unseres Mannes Weib erblickt im 24. Kapitel den Zirkus als neue Welt und Verheißung, seine Schwiegermutter indes hält den Dompteur Kantor für den Leibhaftigen

Im 25. Kapitel fürchtet Hildegard die Russen, und ihre gelähmte Prinzipalin bangt um den Stiernackigen, doch trotz aller Ängste blüht das Kriegsgeschäft fort

Das 26. Kapitel erzählt vom Handel zweier kleiner Männer, wobei der Schwarze seinen Kopf aus der Schlinge zieht und der Braune einen Weißwaschbrief ergattert

Mit dem 27. Kapitel  schmuggelt sich das Zirkusvolk durch den totalen Krieg, schließlich folgt auf Hiobsbotschaften ein Starenwunder

Ex-KZ-Häftling Pachnicke spielt im 28. Kapitel „Das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen …“, zwei Marschälle marschieren an der Weichsel auf, und Madame Busch feiert stille Zirkusweihnacht

Gegen Ende des 29. Kapitels bietet unser Spaßvogel den ganzen Zirkus für ein Billet dritter Klasse, muß indes Margrits Glücksring dafür berappen

Im 30. Kapitel flieht unser Dresseur aus der Festung Breslau, wobei er seine liebe Not mit Ensetzen und Mitleid hat

Das 31. Kapitel bringt den schwarzen Acht-Rappen-Albert um sein Stilett und endet mit einer brennenden Stadt

Das 32. Kapitel erzählt vom letzten Auftritt und dem unwürdigen Tod einiger Zirkuspferde, ein Mann rettet seine nackte Haut, doch der Paradiesvogel verglüht im Feuersturm

Im 33. Kapitel sind die Russen da, worauf den guten Bobby die Wut packt, unser Mann jedoch von Rachman zu faseln anhebt

Im 34. Kapitel tanzt ein graubärtiger Tscherkesse den Schwertertanz, Elefanten und Bären werden gebraten, dennoch ist mehr Glück darin, als Kleingläubige vermuten

Mit dem 35. Kapitel findet Dionar eine junge Reiterin, aus der Schneemanege galoppiert sie ins neue Chapiteau

Im 36. Kapitel kostet der Hahn Fritzi ein Sündengeld, der Teufel macht sich im Paradies breit, und der dicke Hannes türmt mit einem Bären über die Zonengrenze

Im 37. Kapitel hecken ein Ministerialrat und unser Zirkusdresseur einen schwarzen Schimmel aus, worauf der Minister sich als Manegenstar zu behaupten hat

Das 38. Kapitel bringt die geteilte Mark ins Spiel und erzählt, wie Casablancas Rettung zum Tod eines Aufrechten führt

Im 39. Kapitel hören wir die Gäste der Kartoffelpufferschuten-Lilo sich über Lebende und Tote unterhalten

Das 40. Kapitel sieht unseren Pferdelehrer im Marmorsaal des Lichtgottes als Staatskünstler geehrt

Im 41. Kapitel stürzt der Leopard Satan vom Seil, ein Zurechtgeflickter tritt auf, und drei greise Zirkuskerle zechen im nächtlichen Schloß

Die Bilder des 42. Kapitels zeigen unseren Mann auf der Höhe seines Lebens und als Altmeister

Während unser Altmeister im 43. Kapitel zum letzten Mal seine Tiere in der Manege vorführt, simulieren einige Zuschauer über den Zirkusruhm



Zur Geschichte dieses Buches (Ein Nachwort des Autors)

Im August 1966 erschien in der „Wochenpost“ meine Zirkusreportage „Tricks und Dressuren“. Das erste Kapitel handelte von Hermann Ullmann. Er trat damals unter dem ehrenvollen, wenn auch nicht offiziellen Titel „Altmeister der Dressuren“ auf. In den Jahren bis zu seinem Abschied von der Manege sahen wir uns recht oft, auch reiste ich in seinem Wohnwagen mit. Mir blieb nicht verborgen, daß Ullmann voll Geschichten steckte. So lag der Gedanke nahe, ein Buch über ihn zu schreiben.
Einige Jahre gingen dahin, ehe es zum Abschluß des Verlagsvertrages kam. Gedacht war an eine der gängigen Biographien, wie sie über Zirkuskünstler geschrieben zu werden pflegen. Termin für die Abgabe des Manuskriptes: Dezember 1971. Umfang 150 Seiten.

Zunächst ging alles zügig voran. Meine Frau und ich nahmen ein Tonbandprotokoll auf: Hermann Ullmann erzählte sein Zirkusleben. Das ergab ein Typoskript vom vorgesehenen Umfang. Aber ein Buch? Nein, das nicht. Des Altmeisters Gedächtnis erwies sich als so lückenhaft wie das eines jeden Zeitbürgers. Also hieß es recherchieren. Bei Zirkussammlern und in Archiven fand ich alte Fotos, Plakate, Programme, Zeitungsausschnitte, Briefe, amtliche Verfügungen. Fortan rieben und stießen sich Ullmanns Erinnerungen an einem stark erweiterten Umfeld. Personen, die er nur flüchtig erwähnt hatte, gewannen ihre eigene Gestalt.
Der Augenblick kam, an dem ich geneigt war, vor dem Wust an Rohmaterial zu kapitulieren. Was mich weiterzumachen reizte, ging über den engen Zirkel einer Dresseur-Biographie hinaus: In diesem Stoff steckte auf höchst merkwürdige Weise ein halbes Jahrhundert deutscher, ja europäischer Geschichte. Ich muß zugeben, das war für mich eine neue Sicht.

Scheinbar hatte die Manege immer ihr Eigenleben geführt, wenig berührt vom Weltengetriebe der Seßhaften. Ein Wanderzirkus, mag er so weit umherreisen, wie er will, wechselt die Städte und Länder zu rasch, als daß er Teil ihrer Geschichte werden könnte. Ins Bild gesetzt: Wie eine Insel schwimmt der Zirkus im Zeitstrom, zwar getragen von ihm, doch zugleich abgesondert. Diesem Eindruck, vermittelt aus Zirkusbüchern, war ich aufgesessen. Er erwies sich als Irrtum.

Zirkusgeschichte ist Zeitgeschichte. Daß sich das große Welttheater unter dem begrenzten Himmel es Chapiteaus gleichsam wie in einem Kaleidoskop spiegelt und bricht, läßt so manches, was uns Durchschnittsbürgern zugestoßen ist, nur um so deutlicher hervortreten. Aus der Zirkussicht gerät Alltägliches zum Überraschenden, Banales zum Grotesken, Abgedroschenes zum Ungewöhnlichen. Dem Leser sei versichert: Ausgerechnet diejenigen Details und Episoden, die am wenigsten glaubwürdig erscheinen, sind nicht von mir erfunden, die Zeit hat sie geschrieben.
Das erste Kapitel der „Jakobsleiter“ habe ich im Sommer 1973 in die Maschine getippt, die letzten Seiten im August 1984. Indem ich schrieb, trieben die Figuren ihr Spiel mit mir. So getreu ich mich an die Wirklichkeit zu halten suchte, mischte sich um der Wahrhaftigkeit willen Erdichtetes hinein. Selbst Hermann Ullmann, die Hauptgestalt, geriet mir zur Kunstfigur. Ich erkannte in ihm jenen legendären kleinen Mann, der aufrecht durchs Leben gehen will und sich oft ducken muß, der gut sein möchte und es nicht immer sein kann, der sich listenreich mit dem Zeitgeschehen herumschlägt und arg von ihm gebeutelt wird, der den Traum vom Glück träumt, den Jakobsleitertraum, und dem die ganze Last von Krieg und Elend aufgebürdet ist.

Manche Figuren dieses Buches haben wirklich gelebt, wie etwa, Paula Busch, van der Heydt, die Mehrzahl der Dresseure und Artisten. Ich habe mich bemüht, sie so gerecht wie möglich nachzuzeichnen. Andere Gestalten dagegen sind fiktiv. Richtiger gesagt: In ihnen sind zuweilen mehrere Personen zu einer verschmolzen. Das gilt für Pachnicke und Acht-Rappen-Albert, für Rachman und Marcella, für Lilo und den dicken Hannes, ein wenig auch für den Chronisten. Glaubt sich ein Leser in einer der Gestalten wiederzuerkennen, so versichere ich: Dies war meine Absicht! Zugleich bitte ich ihn, für sein Mitspielen die Metapher gelten zu lassen, die ich auf den Zirkus geprägt habe: Er verstehe sich als Federchen des Paradiesvogels, im Ernst wie im Spaß.
Hermann Ullmann ist am 25. Dezember 1981 gestorben. Die Kapitel, die bis zu seinem Tod geschrieben waren, hat er gelesen und gebilligt. Er war ja ein Zirkusmann und wußte: In der Kunst zählen das Vergnügen des Publikums und die Wahrheit mehr als die platte Realität.

Meine Schuld ist es, daß ich Hermann dieses Buch nicht habe in die Hand geben können. Lange Jahre, zu lange Jahre habe ich mit vielen, zu vielen Unterbrechungen daran gearbeitet. Mein Bart ist ergraut, meine Art zu schreiben hat sich geändert, es läßt sich nicht leugnen. Nachträglich die ersten Kapitel auf den Stil der letzten ummodeln zu wollen, wäre vergebliche Müh. Mögen sie so stehen bleiben, wie sie geschrieben sind, als ein Stück meines eigenen Lebens.

Reimar Gilsenbach
Brodowin, 23. Februar 1985